Das Kompetenzzentrum Leaving Care stellt sich vor:
Interview mit Beatrice Knecht Krüger, Leiterin
Der Weg in die Eigenständigkeit stellt für Care Leaver – junge Menschen, die einen Teil ihres Lebens in öffentlicher Erziehung, d.h. in einer Institution oder einer Pflegefamilie verbracht haben – eine grosse Herausforderung dar, da sie verglichen mit den Peers vermehrt psychosoziale Belastungen aufweisen und über weniger stabile private Netzwerke sowie geringere materielle Ressourcen verfügen.
Kompetenzzentrum Leaving Care
Am Übergang in ein selbständiges Leben fehlen für Care Leaver – junge Menschen, die einen Teil ihres Lebens in öffentlicher Erziehung, d.h. in einer Institution oder einer Pflegefamilie verbracht haben – bedarfsorientierte Unterstützungsangebote. Die Jugendhilfe endet in den meisten Kantonen mit 18 Jahren, obwohl der Übergang ins Erwachsenenalter infolge verlängerter Ausbildungsgänge und komplizierterer Identitätsfindungsprozesse bis weit ins dritte Lebensjahrzehnt hineingeht. Der Weg in die Eigenständigkeit stellt für Care Leaver eine grosse Herausforderung dar, da sie verglichen mit den Peers vermehrt psychosoziale Belastungen aufweisen und über weniger stabile private Netzwerke sowie geringere materielle Ressourcen verfügen.
Die drei Verbände CURAVIVA Schweiz, INTEGRAS Fachverband Sozial- und Sonderpädagogik Schweiz und PACH Pflege- und Adoptivkinder Schweiz bauen gemeinsam und mit Unterstützung der Drosos Stiftung das Kompetenzzentrum Leaving Care auf. Damit soll die Thematik der Care Leaver in den Fokus der gesellschaftlichen und sozialpolitischen Aufmerksamkeit gerückt, sowie die teilweise informell erbrachten Leistungen durch Institutionen der Kinder- und Jugendhilfe und Pflegefamilien in der Statuspassage Leaving Care systematisch ermöglicht werden. Dazu braucht es die allgemeine Anerkennung des Unterstützungsbedarfs der Care Leaver, die rechtlichen Grundlagen zur Finanzierung der Leistungserbringung und die professionelle und konzeptionelle Befähigung der Institutionen und Pflegefamilien, um Care Leaver bedarfsorientiert zu beraten und zu begleiten. Der Aufbau des Kompetenzzentrums startete am 1. Januar 2019 und es werden verschiedene Leistungen und Angebote in den folgenden Bereichen geschaffen: Wissensmanagement, Interessensvertretung, Beratung und Support sowie Schulung und Weiterbildung.
Beatrice Knecht Krüger,
Leiterin Kompetenzzentrum Leaving Care
Beatrice Knecht Krüger, Sie sind die Leiterin des Kompetenzzentrum Leaving Care, weshalb ist das Thema Leaving Care so wichtig?
Kinder und Jugendliche, die in einer Institution oder einer Pflegefamilie aufwachsen, werden dort gefördert, unterstützt, begleitet und es ist eine Zeitlang ihr Zuhause. Mit Volljährigkeit oder bei Ende der Ausbildung müssen die jungen Menschen den Ort verlassen und ihr Leben alleine meistern. Gleichzeitig gibt es einen Wechsel beim Wohnort, bei der Arbeitsstelle, bei den Bezugspersonen und bei der behördlichen Zuständigkeit. Die Herausforderung, diese Übergänge gut zu bewältigen, ist gross. Nicht alle, aber einige junge Menschen brauchen in dieser Zeit Unterstützung.
Der Standard 18 aus den Quality4children Standards hält fest «Nachbetreuung, kontinuierliche Unterstützung und Kontaktmöglichkeiten werden sichergestellt». Wie gestaltet sich dies aus Ihrer Erfahrung in der Praxis für ehemalige Heim- oder Pflegekinder?
Dieser Standard ist sehr sinnvoll und beinhaltet wichtige Aspekte der Nachbetreuung. Die Umsetzung in der Praxis gestaltet sich jedoch schwierig. Es fehlt an personellen oder finanziellen Ressourcen, um die Übergangsbegleitung systematisch für alle Care Leaver anzubieten. Verschiedene Institutionen haben Ideen und Konzepte für eine individuelle und punktuelle Begleitung ihrer Ehemaligen, aber bei den Volljährigen ist die Finanzierung solcher Angebote nicht sichergestellt. In Pflegefamilien sieht es ähnlich aus, die volljährigen Pflegekinder werden oft auf privater Basis, ohne Auftrag und Entgelt, unterstützt. Die informelle «Nachbetreuung» hängt dann vom Goodwill der Bezugsperson oder den Pflegeeltern ab.
Sie haben bereits während eines vorgängigen Projekts viele Jugendliche in der Phase des Leaving Care unterstützt. Auf welche Arten von Unterstützung griffen die Jugendlichen zurück?
Die einen brauchten konkrete Tipps: Wo finde ich günstigen Wohnraum? Wie kann ich mein Leben mit dem Lehrlingslohn finanzieren? Wo finde ich eine Arbeitsstelle? Wie kann ich meine Schulden tilgen? Andere brauchten ein längeres persönliches Coaching beispielsweise bei einer beruflichen Neuorientierung, bei Differenzen mit dem Lehrmeister, dem Arbeitgeber oder einem Elternteil. Die Coachings waren individuell und massgeschneidert auf die Bedürfnisse der jungen Menschen ausgerichtet. Man traf sich persönlich, telefonierte, schrieb eine SMS oder Mail.
Was sind die Herausforderungen für Pflegekinder und Heimkinder – gibt es Unterschiede oder Gemeinsamkeiten?
Für Care Leaver aus beiden Bereichen ist das abrupte Betreuungsende mit Volljährigkeit und die damit einhergehende Parallelität der Übergänge im Wohn- und Arbeitsbereich sowie bei den sozialen Beziehungen eine grosse Herausforderung. Für viele junge Menschen wird in dieser Zeit die Rolle der Herkunftsfamilie nochmals ein grosses Thema, vor allem für Pflegekinder. Diese müssen zusätzlich die Beziehung zu den Pflegeeltern neu austarieren.
Welche Fachkenntnisse werden benötigt, um Jugendliche in dieser Phase gut zu unterstützen?
Es gibt nicht DEN Care Leaver. Der Unterstützungsbedarf der jungen Menschen in dieser Phase ist sehr unterschiedlich. In der Begleitung und dem Beratungsprozess braucht es nebst Grundkenntnissen der sozialen Arbeit ein Verständnis für die herausfordernde Lebenslage dieser jungen Menschen, die oft jahrelang in einem fremdbetreuten Setting lebten und sich nach Autonomie und Unabhängigkeit sehnen. Es braucht zudem Kenntnisse der Angebote in der Region und die Vernetzung mit verschiedenen Fachstellen, denn manchmal erfolgt die Triage an Spezialisten z.B. für Schuldensanierung, Arbeitsintegration oder Psychotherapie.
Können Sie aufzeigen, wie sich eine Nachbetreuung im Idealfall gestaltet? Was ist dabei zu beachten?
Die Nachbetreuung bzw. ich spreche lieber von Übergangsbegleitung sollte flexibel und niederschwellig sein. Die bestehenden Beziehungen zu den Bezugspersonen sind als Ressource zu nutzen, gleichzeitig soll im Sinne der Chancengleichheit auch ein neutraler Zugang ermöglicht werden. Die Übergangsbegleitung beginnt dann, wenn der junge Mensch Unterstützung möchte. Dies kann gleich nach Ende der ausserfamiliären Platzierung erfolgen oder zu einem späteren Zeitpunkt. Sinnvoll ist zudem eine aktive Kontaktaufnahme nach ein paar Monaten, um sich nach dem Befinden und Unterstützungsbedarf des jungen Menschen zu erkundigen. Der Care Leaver übernimmt den Lead in der Übergangsbegleitung, d.h. er bestimmt, was er braucht, wann und wie oft.
Welche Rückmeldungen haben Sie von Jugendlichen erhalten, die auf ein Unterstützungsangebot Leaving Care zurückgreifen konnten?
Die Rückmeldungen waren durchwegs positiv. Meist sprachen die Care Leaver nicht von den hard facts wie «super, dass ich jetzt eine Stelle habe», sondern betonten die soft facts wie, «du warst immer für mich da, hast mich motiviert, dir musste ich nicht meine ganze Geschichte erzählen, du kanntest mich gut oder dir konnte ich vertrauen». In Beziehung bleiben, Halt geben und emotionale Stabilität bieten, das sind wichtige Faktoren der Übergangsbegleitung.
Weshalb haben Sie die Leitung des KLC übernommen? Was liegt Ihnen persönlich am Herzen?
Es wird viel investiert in die Jugendhilfe – Zeit, Geld und Engagement – und von einem Tag auf den andern ist Schluss oder es folgt teilweise die Sozialhilfe. Es braucht dringend passgenaue Unterstützungsangebote für Care Leaver und gesetzliche Grundlagen, welche die Finanzierung dieser Leistungen sicherstellen, damit allen Care Leavern ein unbürokratischer Zugang zu einer bedarfsgerechten Übergangsbegleitung offensteht. Es soll nicht von Sympathie und Zufall abhängig sein, ob ein junger Mensch weiter unterstützt wird. Dass die Herausforderungen und Anliegen der Care Leaver auf nationaler Ebene anerkannt und faire Bedingungen geschaffen werden, dafür möchte ich mich einsetzen.