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Krieg in der Ukraine – für Kinder ein neues Trauma?
Ein Bericht von Martin Jany, Schulleiter der Schule Friedheim
Wo zuvor das eigene Trauma, die persönliche Belastung der Kinder und Jugendlichen ihre Entwicklung einschränkte und verzögerte, kommt nun der Abgrund des Krieges hinzu. Kinder erzählen, dass sie Angst haben, dass sie glauben, «dass es nicht gut kommt». Sie sprechen von mehr schlaflosen Momenten, ohne sagen zu können warum. Nach Corona also das nächste Schreckensgespenst.
direkt zur Umfrage «Ukrainekonflikt»
Das Grauen des Krieges in der Ukraine beschäftigt uns alle. Auch wenn mit unterschiedlichen Ansätzen, Gedanken und Vorstellungen. Dass es wieder einen Krieg in Europa geben könnte, war nicht zu vermuten, nicht wirklich zu glauben. Und doch stellt sich dabei natürlich die Frage: Wenn wir schon Waffen bauen, dann müssen (oder wollen?) wir sie auch gebrauchen. Sonst wäre das ja, wie wenn ich ein Auto kaufen würde und es in der Garage stehen liesse. Dies ist jedoch mehr ein zynischer Aspekt der ganzen Tragödie. Die grundsätzliche Frage müsste nämlich lauten: Wie schaffen wir Menschen es, in Frieden miteinander zu leben?
Das ist ein Grundsatz unserer täglichen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Dort stellen wir uns dieser Ausgangslage nämlich ununterbrochen. In der Pädagogik lehren und vermitteln wir ein Miteinander. Auch wenn die Wege oft holprig und uneben sind: die Aufgabe ist klar! Wie reagieren unsere Kinder und Jugendlichen, denen wir in der Schule Friedheim stets von Frieden und Zusammenarbeit predigen, auf das aktuelle Geschehen dieses Krieges? Bis anhin kennen die meisten unserer Kinder den Krieg aus den Reihen der eigenen Familie: Streit! Auch da werden vielfach schwere Geschütze aufgefahren, welche diverse Traumata auslösen. Zusätzlich lernen die Jüngsten Krieg und Gewalt auch in Video-/Online-Spielen und Filmen.
Grundsätzlich kennt die junge Generation in unserer Gesellschaft das Leid und die Gewalt in dieser Weise, wie sie nun ganz nahe bei uns stattfindet, nicht aus erster Hand.
Und plötzlich ist alles so nah, so real …
Und das löst viel aus. Auf einmal dreht sich die Welt nicht mehr so rund, wie noch zuvor. Plötzlich jagen echte, brutale Tatsachen über die Bildschirme: Tod, Zerstörung, Sinnlosigkeit.
Auch die Kinder und Jugendlichen in der Institution Friedheim, die bei uns wohnen und zur Schule gehen, setzen sich mit dieser Realität auseinander. Sie fragen, berichten, wollen wissen. Wo zuerst Interesse und Neugier vorhanden war, schleicht sich langsam ein Unbehagen ein, später dann ein Wegdrängen, vielleicht auch ein Vergessen. Die Wahrheit erschüttert. Sie bringt die Norm ins Schwanken. Neben dem eigenen Stress gesellt sich nun noch die Angst vor der Zukunft in einer kriegerischen Bedrohung hinzu.
Wo zuvor das eigene Trauma, die persönliche Belastung der jungen Geschöpfe ihre Entwicklung einschränkte und verzögerte, kommt nun der Abgrund des Krieges hinzu. Kinder erzählen mir, dass sie Angst haben, dass sie glauben, dass es nicht gut kommt. Sie sprechen von mehr schlaflosen Momenten, ohne sagen zu können warum. Nach Corona also das nächste Phantom.
Was kann man dagegen tun?
Wenig gegen den aktuellen Krieg, aber viel in der Auseinandersetzung mit den Kindern und Jugendlichen. Zuhören, reden, zuhören. Die eigene Betroffenheit mitteilen. Dazu auch aktive Handlungsmöglichkeiten anbieten, etwas, das ihnen den Glauben gibt, etwas Gutes zu tun, etwas gegen die Gewalt und die Hoffnungslosigkeit machen zu können.
Dazu gehörte auch die Idee, «Guezli» zu backen, um Geld für die Glückskette zu sammeln. Mit grossem Eifer setzten sie dieses Vorhaben um. Und mit einem noch grösseren Stolz zeigten sie uns am Ende des Tages das gesammelte Geld: 400 Franken hatten sie innerhalb einer Stunde erwirtschaftet. Die Kinder verkauften die Guezli nicht: sie verschenkten sie mit der Botschaft, dass man Geld für eine Spende der Glückskette zu Gunsten der Ukraine geben dürfe. Ist geben nicht einfach etwas Wunderbares? So konnten beide Seiten «geben»: die Kinder und die Erwachsenen.
Diesen Glücksmoment genossen die jungen Menschen sehr. Doch, wie sieht es in ihnen drinnen aus? Welche Gedanken zum Krieg tragen sie mit sich herum? Um dem etwas nachzugehen und unsere pädagogische Arbeit auch auf diesen Punkt zu lenken – «Wie fangen wir mögliche Ängste und Fragen der Kinder und Jugendlichen auf?» – machten wir eine kleine Umfrage.
Das Resultat stimmt sehr nachdenklich.
Erwachsene streiten sich. Das kennen viele unserer Kleinen von zuhause her. Unter anderem sind einige auch darum bei uns in der Institution. Streiten Kinder, dann werden sie von Erwachsenen dazu aufgerufen, wieder Frieden zu schliessen. Streiten Erwachsene, so leiden Kinder und Jugendliche immer darunter. Tun das die Erwachsenen in einem bewaffneten Konflikt, sprich Krieg, so leiden immer unglaublich viele Menschen. Ob jung oder alt. Und leider ist das «Frieden machen» dann nicht so leicht.
Die Antworten der Kinder und Jugendlichen machten uns sehr nachdenklich. Was tun wir in der Verantwortung Stehenden den Kleinsten, Schutzbedürftigen dieser Welt nur an?
Versuchen wir unsere Ängste mit Zynismus oder Gesprächen, Verdrängung oder einem Glas Wein im Zaun zu halten, sind Kinder solchen Themen eher einfach ausgesetzt. Sie kennen – ausser Verdrängen – noch zu wenige Reaktionsmittel. Dann fressen sie die Unsicherheit in sich hinein – und werden schliesslich von ihr selbst aufgefressen.
Wir müssen den Kindern und Jugendlichen zeigen, dass wir da sind, dass wir sie und ihre Bedürfnisse hören und entgegennehmen. Wir müssen ihnen die Sicherheit geben, dass wir bei ihnen bleiben, dass wir uns für ihre Sorgen und Fragen interessieren. Gerade jetzt!
Sich mit den Jungen auseinanderzusetzen, bedeutet in Präsenz bleiben, ihnen Nähe und Geborgenheit zu geben, sie zu fördern. Wenn wir uns gemeinsam mit ihnen austauschen, dann kommt das einer überfachlichen Reflexion gleich. Auf beiden Seiten.
Auch wir sind offen an den herausfordernden Inhalt zum Thema Krieg in der Ukraine herangegangen, haben uns zusammengesetzt oder sind auch einzeln im Gespräch verblieben. Es ist unglaublich, welche Schwere einige Kinder mit sich herumtragen. Das erfahren wir auch, wenn wir die Antworten zu einer internen Umfrage in der Schule Friedheim zum Krieg in Osteuropa lesen (siehe unten). Bedrückend. Ernüchternd, manchmal einfach nur traurig. Was geben wir unseren Kindern nur mit?
Und doch, das ist womöglich das Schöne in diesem Alter, verrinnt die Zeit in einer anderen Art und Weise als jene der Erwachsenen.
Schon heute liegt in den Klassenzimmern oder auf dem Pausenplatz die Schwere des Kriegsbeginns nicht mehr überall herum. Vielmehr hat sich der tägliche, eigene Konflikt oder das Vergnügen im Spiel durchgesetzt. Vielleicht Verdrängung – vielleicht auch einfach Kindheit.
Geben wir den Kindern, was sie stark macht: Kindheit.
Martin Jany,
Schulleiter Schule Friedheim
Umfrage zum
Ukrainekonflikt
14 Kinder zwischen 12 und 16 Jahren wurden befragt. 10 Rückmeldungen wurden abgegeben.
1. Informierst du dich über diesen Krieg?
Wie kommst du zu Informationen:
- Lesen; Zeitung, Netz
- Austauschen mit Freunden
- TV
2. Wie stark beschäftigt dich dieser Krieg?
3. Hast du Angst, dass sich dieser Krieg ausbreitet?
4. Glaubst du, dass dieser Krieg auch in der Schweiz Veränderungen bringt?
Welche Veränderungen siehst du kommen:
- Benzinpreise werden teurer
- Das Öl wird teurer
- Vieles wird teurer
- Ja – wir alle dürfen das nicht ignorieren
- Auch wir müssen handeln
- Dass wir allgemein für Frieden sorgen
- Wir haben alle mit dem Krieg schon verloren
- Es wird vor allem wirtschaftliche Veränderungen geben
5. Wie könnte man helfen?
- Wir alle müssen spenden.
- Andere Länder müssen auch in den Krieg gehen.
- Den Leuten helfen, die kein Zuhause mehr haben.
- Essen schicken.
- Den Krieg verhindern.
- Man kann da gar nichts mehr machen.
- Man müsste Putin töten.
- Ich habe echt keinen Plan…
- Mit Putin reden und reden und reden.
6. Wie könnte man den Konflikt lösen?
- Einfach weiterleben
- Putin das Land zurückgeben, das er seit dem Zweiten Weltkrieg zurückhaben möchte.
- Indem Putin und der ukrainische Präsident miteinander normal reden.
- Ich habe keine Ahnung, wie man da was machen könnte.
- Der Konflikt ist so unnötig, wie wenn man nach dem Duschen duschen geht.
- Ganz einfach: Frieden machen.
- Putin aufhängen.
7. Was sind deine Gedanken noch ...
- Ich finde, dass der Krieg allgemein unnötig ist und dass er sehr vielen Leuten schadet. Viele unschuldige Menschen müssen sterben. Und noch vieles mehr…
- Wenn ich sterbe…Ja, dann passiert das halt. Aber lieber würde ich leben.
- Womöglich ist das nun der dritte Weltkrieg.
- Krieg ist einfach so etwas Unnötiges.
- Ich finde, es wird zu viel über den Krieg in den Medien gesprochen. Auch in anderen Ländern herrschen schon seit langer Zeit Krieg und nichts ist davon in den Medien zu lesen.
- Ich versuche, nicht zu viel daran zu denken.
- Ich hoffe nicht, dass es einen Atomkrieg gibt.
- Ich habe schon ein wenig Angst. Vor Atombomben.
Weitere Informationen
zum Thema
Zum Umgang mit geflüchteten und traumatisierten Kindern & Jugendlichen in sozialpädagogischen Institutionen und Pflegefamilien haben Integras, Curaviva und PACH in Zusammenarbeit mit der Zürcher Arbeitsgruppe Kind und Trauma (ZAKT) eine hilfreiche Broschüre (2018) erarbeitet.
Merkblatt: Umgang mit schutzbedürftigen Kindern aus der Ukraine
Empfehlungen zur ausserfamiliären Unterbringung
Integras bietet zusätzlich ethische Impulse zur Beziehungsarbeit in Krisen: