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«Ecole Auguste Buchet» der Stiftung «L’Espérance»

Auf der Umlaufbahn der Menschlichkeit

Zugegeben, es mutet abenteuerlich an, in Zürich um 05h19 in den allerersten Zug zu steigen, um sich auf eine Reise in den Distrikt Morges im Kanton Waadt zu begeben. Aber nachdem Schuldirektor Jean-Pierre Counet nur den einen Termin um 8h30 frei hatte, war das keine Frage. Die dreistündige Hinfahrt via Lausanne nach Etoy führt mich nach einer kurvenreichen Postautofahrt direkt an die Haltestelle «L’Espérance», von wo aus man die gleichnamige Stiftung erreicht. Die meisten Fahrgäste steigen aus und eilen zielstrebig in allen Richtungen davon.

Bevor ich mich ihnen anschliesse, halte ich kurz inne. Der Himmel erstreckt sich hier tiefblau bis zum Horizont und gleichmässig geschwungene Felder ziehen in die Ferne. Ich schliesse kurz die Augen und denke, hier ist es also, der Ort, wo die Zeit in Ruhe verstreicht und der Herzschlag der Welt zu spüren ist.

Vor mir liegt die Einrichtung «L’Espérance», «le village», wie sie liebevoll genannt wird. Mit einer Schule, einer Kapelle, einem Restaurant sowie Wohn- und Arbeitsstätten gleicht «L’Espérance» wahrhaftig einem Dorf, ihre Wege tragen sogar unterschiedliche Strassennamen.

Ich überquere den Parkplatz und gehe geradewegs auf ein lachsfarbenes Landhaus zu, das trotz seines Alters nichts von seiner Schönheit eingebüsst hat. Es sieht aus, als ob es mit seinen seitlichen Flanken grossherzig die Arme für seine Besucherschaft ausstreckte, und ist das älteste auf dem rund 11ha grossen Grundstück. Heute befindet sich hier unter anderem die Reception.
 

01 Haus Stiftung

 
Ein überdimensioniertes Ringbuch mit der Gründungsgeschichte der Stiftung «L’Espérance» gibt den Wartenden Einblick in ihre Geschichte und stellt dar, wie vor 150 Jahren die Geschwister Auguste und Charlotte Buchet fünf gehörlose und stumme Schüler:innen in einem kleinen Haus in Etoy aufgenommen haben. Von einer kleinen Schule für Kinder mit besonderen Bedürfnissen ist die Stiftung «L’Espérance» auf mehr als fünfzig Einrichtungen angewachsen, die hauptsächlich im Westen des Kantons auf dem Gelände von Etoy, aber auch in den Städten Nyon, Gland, Morges oder Rolle und seit kurzem in L’Isle angesiedelt sind. In diesem Jahr sind es mehr als 150 Kinder und 300 Erwachsene, die von den Leistungen und der Kompetenz der Stiftung profitieren.

Die Institution feiert dieses Jahr Jubiläum. Im Herbst steigt das grosse Fest mit dem Motto «la temporalité en lien avec le handicap», was man mit «die zeitliche Dimension im Leben mit einer Behinderung» wiedergeben kann.
 

02 Ringbuch

 
M. Counet kommt und wir begrüssen uns. Es gibt Pädagogen, die schreiben sich unmittelbar in unser Gedächtnis ein. Es sind diejenigen mit einem grossen Herzen, einer natürlichen Autorität und einem Weitblick, die dazu noch ein Urvertrauen in sich tragen, von dem man sich gern ein Stück abschneiden würde. M. Counet ist so einer. Er ist der Schuldirektor der «Ecole Auguste Buchet». Innerhalb der Stiftung trägt die Schule damit ihren eigenen Namen und geniesst auch innerhalb der Online-Präsenz der «L’Espérance» einen eigenen Auftritt. 
 

03 Ms JP Counet

 
Die Schule umfasst drei Sektoren mit etwa 14 Klassen, darunter zwei auf dem Gelände der Gemeinde L'Isle. Sie reichen vom Kindergarten bis zur Oberstufe. Im Weiteren gehören zwei Schulinternate und eine Einrichtung zur Elternunterstützung dazu.

Um die Schule als Gesamtes zu verstehen, zeigt M. Counet mir eine Darstellung von ineinander liegenden Ellipsen, die im Gesamten an ein Universum erinnern. Dabei trennt eine Ellipse den inneren Kernbereich von einem äusseren Bereich. Im Innern befinden sich Kernaufgaben wie zum Beispiel die Klassen und die Gesundheitspflege, im äusseren Bereich sind Angebote angesiedelt wie zum Beispiel der Transport.

Die einzelnen Schulen und Einrichtungen sind auf der Ellipse wie Satelliten in ihrer Laufbahn eingezeichnet. Sie sind miteinander verbunden und halten sich gegenseitig in ihrer Schwerelosigkeit. Es stellt sich nicht die Frage, ob es sie braucht oder nicht. Sie tragen und ergänzen sich gegenseitig und beweisen dadurch ihre Notwendigkeit.

Diese Aufstellung der Einrichtung habe sicherlich dazu beigetragen, dass während der Covid-Pandemie rasch habe gehandelt werden können, meint er zusammenfassend. Die zusammenhängenden Stellen hatten es erlaubt, schnell zu reagieren und die Eltern sofort zu entlasten. Es sei eine komplizierte und harte Zeit gewesen, aber insgesamt habe man das Rad nicht neu erfinden müssen, es sei alles da gewesen.
 

04 Platz

 
Ich will wissen, was sich in den letzten Jahren am meisten verändert hat. Ohne zu zögern nennt M. Counet die wachsende Zahl von Kindern und Erwachsenen mit verschiedenen Formen der Autismus-Spektrum-Störung. Sie würden fast ein Drittel der in der Schule aufgenommenen Kinder repräsentieren, Tendenz steigend. Das Problem verschärfe sich im Hinblick auf die Anforderung an das Personal, es brauche mehr und fachlich top ausgebildete Leute. Da stehe man vor einer grossen Herausforderung.

Wir machen uns auf zu einem Rundgang auf dem Gelände. Und wie in einem Dorf ergibt sich auch hier der eine oder andere spontane Schwatz mit anderen. Die Umgebung ist grosszügig und rundherum ist es grün. Kein Wunder, ist «Ökologie» das grosse Projekt in diesem Schuljahr. Die Kinder erfahren auf vielfältige Weise den Respekt vor der Umwelt und experimentieren mit Licht, Wasser, Energie und im Garten.
 

05 Schulzimmer

 
Unterwegs frage ich meinen Begleiter, welche Probleme sich am meisten stellen. Ohne zu zögern erhalte ich die Antwort: «das Personal». Es sei kompliziert, meint er. Die Ausbildungen seien sehr interessant, vielversprechend und anspruchsvoll. Aber die Nähe zur Institution, in der man später arbeite, werde so ganz und gar nicht mehr gesucht. Es sei kompliziert. Ob hier ein bisschen Wehmut mitschwingt? Dreissig Jahre war M. Counet in der «L’Espérance» tätig, einmal für zwölf und später noch einmal für achtzehn Jahre. In einem halben Jahr tritt er in den Ruhestand. Es gebe diesbezüglich noch viel zu tun. Das ist wahr, denn schon steht der nächste Termin in Lausanne an. Der Schuldirektor verabschiedet sich herzlich und man wünscht sich alles Gute.

Ich schlendere weiter und gehe zurück zur Reception, wo ich den Generaldirektor Jean-Claude Pittet treffe. Er erkundigt sich über meinen Aufenthalt im «village». Wir tauschen uns aus und ich fasse die wesentlichen Punkte zusammen, die ich in der wenigen Zeit über «L’Espérance» habe erfahren dürfen. Das Universum mit seinen Satelliten, die Schule … M. Pittet klappt den Laptop auf und startet einen Kurzfilm, ein soeben neu angefertigtes filmisches Porträt der Institution. Die Stimme der Sprecherin beginnt:

«Et si c’était le cœur …»

Wir schauen den Film gemeinsam an und ich erkenne in den sich wiederholenden Sätzen und Satzmelodien die Struktur der elliptischen Umlaufbahnen wieder. Dabei stellt sich mir nur noch eine Frage: Was hält den Kern dieses Universums zusammen? Was ist das, dieses Herz, das in der Mitte dieses Universums schlägt?

«L’humanisme», antwortet mein Gegenüber ruhig aber bestimmt. Das humanistische Menschenbild liege in der «L’Espérance» allem zugrunde, es sei das Verbindende.

In diesem Zusammenhang berichtet M. Pittet auch von einem neuen Sinnesgarten im Geiste eines Snoezelen-Raums, einem Garten für alle Sinne. Er werde aktuell angelegt und solle für das Fest im August fertig werden. In der Mitte werde ein Baum stehen und rundherum angeordnet die Sinnesgärten, die wiederum miteinander verbunden sein werden.
 

06 Sinnesgarten

 
Ich begebe mich auf die Rückreise, schlendere am zukünftigen Sinnesgarten vorbei und lasse «le village» hinter mir, den Ort, wo jeder Herzschlag das Zentrum des Universums darstellt.

 

07 Film

 

«Ecole de Auguste Buchet»

L’Espérance Institution spécialisée pour personnes handicapées à Etoy / VD

  • Schulbelegung: 3 Kurse, die etwa 14 Klassen zusammenbringen, 2 Schulinternate
  • Betreuung nach der Schule

Jean-Pierre Counet, directeur de l’Ecole Auguste Buchet se fera un plaisir de répondre à toutes vos questions sur l’ Ecole de Auguste Buchet: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.

 

© Integras, Text und Fotos: Barbara Hiltbrunner Bissig, Mai 2022