Das Netzwerk Kinderrechte Schweiz stellt im Rahmen des Partizipationsprojekts 2024–2026 zur Evaluation der Kinderrechte in der Schweiz einen Kinder- und Jugendbericht zuhanden des Kinderrechtsausschusses zusammen. Als Partnerorganisation des Projekts hat Integras in mehreren Heimen und einer spezialisierten Institution in der Romandie Workshops durchgeführt, in denen die Kinder ihre Sichtweise darlegen konnten. Nachfolgend werden ihre wichtigsten Anliegen und Verbesserungsvorschläge zusammengefasst.
Berücksichtigung des Kindeswillens (Art. 12)
Viele Kinder haben den Eindruck, dass sie von den Erwachsenen kaum gehört und nicht genügend ernstgenommen werden – in der Institution, in der Schule oder auch von den Sozialarbeitenden. Dies wirkt sich direkt auf die alltägliche Organisation wie auch Entscheidungen, die sie angehen, aus. Gewisse Entscheide, insbesondere jene zur ausserfamiliären Unterbringung, wurden gefällt, ohne dass die Kinder angehört worden wären oder eine Erklärung erhalten hätten. Dies erzeugt und verstärkt das Gefühl, eine Ungerechtigkeit zu erleben. Im Heim illustriert sich dieses fehlende Gehör darin, dass die Pädagog*innen nur wenig Zeit für die Kinder haben oder ihnen Gründe für Sanktionen nicht erklären.
Trennung von den Eltern; persönlicher Umgang (Art. 9)
Das Thema Leben mit seiner Familie und Unterhalt regelmässiger Kontakte (Art. 9) gehört ebenfalls zu ihren wichtigsten Anliegen. Ein Grossteil der Kinder beklagt die Trennung von ihrer Familie und äussert den Wunsch nach vermehrtem Kontakt mit den Eltern, ohne strikte Rahmbedingungen, die die Kinder oftmals nicht verstehen. Einige leiden stark unter der Entfernung von ihrer Familie auch an Wochenenden.
Schutz vor Gewaltanwendung, Misshandlung, Verwahrlosung (Art. 19)
Die Kinder berichten von verbaler Gewalt, Aggressivität und Mobbing zwischen Gleichaltrigen, insbesondere in der Schule oder im Heim. Der affektive und körperliche Schutz sowie das Gefühl, in allen Lebenssituationen auf Schutz zählen zu können, wird als nicht ausreichend gesichert wahrgenommen. Für einige Kinder ist die Entweichung ein Ruf nach Schutz oder Bindung, der von den Erwachsenen dann missinterpretiert wird.
Schutz der Privatsphäre und Ehre (Art. 16)
Ein Zimmer mit anderen Kindern, die manchmal sehr unterschiedlichen Altersgruppen angehören können, teilen zu müssen, untergräbt das Gefühl von bestehender Intimsphäre und Sicherheit. Auch eine fehlende Stabilität (häufiges Wechseln des Zimmers) wird als Hindernis genannt, um sich vollständig angekommen und «zu Hause» fühlen zu können. Betreten andere Kinder oder Erwachsene ihr Zimmer ohne vorheriges Anklopfen oder warten die Antwort nicht ab, erleben dies die Kinder als ein Eindringen in ihre Privatsphäre.
Achtung der Kindesrechte; Diskriminierungsverbot (Art. 2)
Die Kinder sprechen auch unterschiedliche Behandlungen an (Art. 2), insbesondere in der Schule, wo sie Rassismus wahrnehmen oder Hänseleien, speziell gegenüber Kindern mit besonderen Bedürfnissen. Im Heim werden unterschiedliche Behandlungen je nach Alter oder Autonomieentwicklung ebenfalls negativ erlebt: Insbesondere die Jugendlichen fühlen sich weniger unterstützt, weniger prioritär bis sogar sich selbst überlassen, sobald sie als «autonomer» eingestuft werden. Für einige unter ihnen bedeutet dies geringere Aufmerksamkeit, ausser wenn sie Krisen heraufbeschwören oder Probleme machen.
Forderungen der Kinder
- Mehr Zeit für den Dialog mit den Erwachsenen, echtes Gehör finden: mehr gehört, verstanden und eingebunden werden in Entscheidungen, die sie betreffen.
- Verbesserter Kontakt mit den Eltern: Flexiblere Handhabung der Telefonkontakte, mehr Zeit für/Zugang zu Kommunikation, mehr Besuche.
- Bessere spezifische Unterstützung in der Schule, um Diskriminierungen zu vermeiden.
- Abschaffung der sehr grossen Institutionen, Förderung von Pflegefamilien und Schaffung von Betreuungseinrichtungen mit flexiblen Tagen, die die Möglichkeit eines temporären Aufenthalts bei Bedarf nicht ausschliessen.
- Ausgeglichenere und respektvolle Beziehung Kinder-Erwachsene: Erwachsene, die auch fähig sind, ihre Fehler zu erkennen, und die sich immer die Zeit nehmen, um Gründe für Sanktionen zu erklären.
- Schaffung von mehr Einzelzimmern in den Heimen, vor allem für Kinder/Jugendliche ab einem bestimmten Alter.
- Mehr Pädagog*innen für mehr Stabilität.
- Besseres Gehör finden bei den Sozialarbeitenden: Häufigere Kontakte und die Möglichkeit für die Kinder, sich in passender Weise ausdrücken zu können (nicht nur verbal).
Diese Forderungen zeugen von Reife und hellsichtigen Überlegungen und man kann nicht genug die Wichtigkeit unterstreichen, die Kinder und Jugendlichen vermehrt einzubeziehen: Sie sind die wahren Kenner*innen ihres eigenen Lebens.
Ein grosses Dankeschön allen Kindern und Jugendlichen, die an diesen Workshops mitgemacht haben!
Mehr Informationen zum Projekt und zum Bericht
Der von Integras mitunterzeichnete offene Brief des Netzwerks Kinderrechte Schweiz