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Beziehungsqualität durch erfolgreiche Eltern-Schule-Zusammenarbeit

Bei Kindern mit herausforderndem Verhalten ist es wichtig, dass das soziale Feld des Kindes verstanden und einbezogen wird. Mit Hilfe von empathischer Führung und genauem Hinschauen können Beziehungen entstehen und dadurch die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen positiv beeinflusst werden.

 

Für den Besuch der Tagesschule Oberglatt fährt die S15 vom Hauptbahnhof Zürich in die gleichnamige Gemeinde, lediglich fünf Stationen nordwärts und von da nochmals zehn Gehminuten bis zum Schulhaus. Oder man nimmt das Velo und fährt durchs Zürcher Unterland, vorbei an blühenden Rapsfeldern und Storchennestern. An einem sonnigen Aprilmorgen wie diesen scheint das Letztere das einzig Richtige zu sein. Der frische Fahrtwind schärft die Sinne und den Geist – was uns wohl an der Tagesschule Oberglatt erwarten wird?

Die Tagesschule Oberglatt liegt am Rand eines zentral gelegenen Wohnquartiers, angrenzend zum Wald. Hier besuchen maximal 45 Kinder und Jugendliche (KJ) zwischen 6 und 20 Jahren die Tagessonderschule auf Primar- oder Sekundarstufe. Sie alle haben Beeinträchtigungen im Lernen und/oder in ihrem Verhalten und gelten als besonders «herausfordernd». Die meisten von ihnen – die Mehrheit besuchte zunächst die Regelschule – haben ein ADHS oder weisen eine Form von Autismus auf.
 

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Tagesschule Oberglatt, Oberglatt ZH. 

 

Vor dem Eingang kommt der Schulleiter Eckart Störmer über den Pausenplatz entgegen und heisst den Besuch willkommen. Er fügt sogleich an, dass er des Öfteren hier Angehörige von Schülerinnen und Schülern abhole. Wir gehen hinein, am Lehrerzimmer vorbei und betreten sein Büro. Er holt aus: «Wissen Sie, unsere Schülerinnen und Schüler haben in der Regelschule oft schlechte Erfahrungen gemacht, was auch für die Eltern schwierig war. An dieser Schule legen wir deshalb von Anfang an Wert auf einen positiven Kontakt zu den Eltern, damit sie zu einem aktiven Teil der Schule werden».

Störmer kennt die Dynamik sehr gut, wenn externe Therapien nicht mehr greifen, die Lehrpersonen und die Eltern nicht mehr weiterwissen und die Überforderung aller selbst zum Thema wird. Er beschäftigt sich seit Jahren damit und publiziert darüber in Fachzeitschriften. Er selbst ist hier seit 2001 als Heilpädagoge und ab 2013 als Leiter tätig. Er ist überzeugt davon, dass Veränderungen erst greifen, wenn alle mit auf dem Boot sind. «Die Eltern müssen bei uns bereit sein mitzuarbeiten. Erst dann können wir genauer hinschauen und gemeinsam die richtigen Fragen stellen». Er schaut auf die Uhr und verweist auf die laufende Musikprobe, «die wollen wir nicht verpassen».
 

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Eckart Störmer, Schulleiter an der Tagesschule Oberglatt.

Bandprobe

Auf dem Weg dorthin gehen wir im Treppenhaus an Instrumenten vorbei, die von der Decke herabhängen und an die Kraft der Musik erinnern. Alle Kinder und Jugendlichen kommen an der Tagesschule Oberglatt in Berührung mit Musik, sei es über die Musiktherapie oder über die musikalische Vermittlung im Einzel- oder Gruppenunterricht. Die Musik wird als Mittel zur ganzheitlichen Förderung verstanden, die nicht nur die musikalischen Fähigkeiten fördert, sondern auch die emotionale Stabilität, die sozialen Kompetenzen und die Selbstwahrnehmung verbessert.
 

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Musikprobe mit Kindern und Jugendlichen an Schlagzeug, Saxophon und Keyboard. 

 

Mit Jhon Hernandez haben sie einen Profimusiker und Musiklehrer gefunden, der eine grosse Anzahl Instrumente zu vermitteln weiss. Er kommt aus Venezuela, wo der musikalische Unterricht und die Orchesterproben für alle Kinder und Jugendliche Programm ist.
 

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Jhon Hernandez, Musiklehrer und Instrumentalist. 

 

Wir treten ein in die Probe. Drei Jugendliche üben mit Hernandez das Jazz-Stück «Take Five». Sein unverwechselbarer 5/4-Takt fordert einiges von ihnen ab. Hernandez unterbricht und ermahnt intensiver an der Spannung zu arbeiten – also nochmals von vorn: drei, zwei, eins!

Nico (Name geändert) am Schlagzeug trägt mit seinem Beat die Band durch das Stück. Das braucht Selbstvertrauen, Impulskontrolle und Durchhaltevermögen. Als er an diese Schule kam, lehnte er den Musikunterricht ab, sein Verhalten gilt seit Beginn als äussert herausfordernd. Hernandez erzählt, wie er ihn zuerst spielerisch integrierte und ihn mit der Zeit mehr und mehr forderte, ohne ihn zu überfordern. Es wird sehr darauf geachtet, dass die Freude an der Musik im Mittelpunkt bleibt. Heute spielt Nico vier Instrumente. Gewiss ein Ausnahmetalent, aber eines, das die Tragbarkeit seiner schulischen Umgebung bestätigt.

«Wir setzen beim Veränderbaren an», setzt Störmer hier ein und ergänzt weiter, wie sie das Verhalten der Kinder und Jugendlichen als Information lesen. Die Musiktherapie bildet dabei einen wichtigen Pfeiler. Über sie können spezielle Bedürfnisse therapeutisch auf der emotionalen Ebene angesprochen werden. Barbara Pfister ist Musiktherapeutin an der Tagesschule Oberglatt und zeigt ihren Arbeitsraum, wo eine Reihe verschiedener Instrumente die Aufmerksamkeit auf sich lenken.
 

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Barbara Pfister, Musikpädagogin. 

Schwerpunkt Autismus

Pfister ist mit Fragen rund um Autismus spezialisiert. Und sie weiss, dass es immer mehr Kinder gibt, die davon betroffen sind. Sie fasst zusammen, wie es zu kurz gedacht sei, diese Tendenz als Modediagnose zu bezeichnen. Es habe mit unserer Welt zu tun. Das seien Kinder mit Wahrnehmungsverarbeitungsstörungen. Pfister beschreibt ihre Schülerinnen und Schüler als hypersensibel und sozial sehr aufmerksam, sie können aber Unstimmigkeiten weder einordnen und noch benennen. Ihre Hypersensibilität auf innerliche Prozesse könne eine totale Handlungsunfähigkeit in der Schule hervorrufen, im Sinne von: Wenn etwas nicht stimmt, dann läuft gar nichts mehr. Dabei ziehen sie sich zurück, weil es ihnen zu anstrengend ist. «Dabei wollen die Kinder gar nicht alleine sein», bringt sie das Dilemma auf den Punkt.

Auf Anfrage des Volksschulamts hat die Schulleitung im 2019 ein Konzept zum Schwerpunkt «Autismus» vorgelegt und sich immer mehr auf dieses Thema spezialisiert. Die Nachfrage ist sehr gross und Störmer spricht von einem Run auf die Plätze, was er als eine ungünstige Entwicklung wertet. Der Anstieg von Sonderbeschulungen muss überhaupt zu einem Umdenken in der gesamten Schulwelt bewegen. Störmer sieht als ein Mittel zur Wahl die schulnahe Elternunterstützung.

Eltern mit aufs Boot nehmen

Kinder mit herausforderndem Verhalten sind unter anderem oft deshalb schwer integrierbar, weil sie in einer belasteten familiären Situation leben. Seiner Meinung nach wird diesem Umstand zu wenig Beachtung geschenkt. Er verdeutlicht, wie wir über den Kopf des Kindes Massnahmen und Zielvereinbarungen treffen, ohne seine familiäre Situation gut zu kennen. Die emotionale Situation und die Lebenssituation sind aber oft wichtiger. Er fügt ein Beispiel eines Schülers an, dessen getrennte Eltern noch in einer Wohnung zusammenlebten und das Kind dauernd dem heftig geführten Streit ausgesetzt war. Bei einer solchen Konstellation ist es nicht weiter verwunderlich, wenn das Kind in der Schule aneckt und Konflikte gewalttätig löst. Die Tagesschule Oberglatt hat deshalb eine schulinterne Stelle für Soziale Arbeit geschaffen, die neben einer schulnahen Erziehungsberatung und Familienbegleitung auch Multifamilienarbeit anbietet.
 

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Roger Gyger, Multifamilientherapeut und Theresa Wagner, Sozialarbeiterin.

Multifamilienarbeit und schulnahe Familienhilfe

Roger Gyger, Schulsozialarbeiter und Multifamilientherapeut, und Theresa Wagner, Sozialarbeiterin stellen ihre Aufgaben an der Tagesschule Oberglatt vor. Wir stehen um einen runden, roten Teppich und Gyger schildert mit viel Einsatz die Situation, wie sechs bis acht Schülerinnen und Schüler und ihre Familien bei der Multifamilienarbeit von ihm in einen Austausch gebracht werden. Dabei gelten die folgenden Spielregeln: Erstens bleibt die Verantwortung für die Kinder währenddessen bei den Eltern und zweitens unterstützen sich die Familien bei der Lösungssuche.

Die Coaches sind lediglich neugierige Nichtwissende, die die Lösungssuche und das Experimentieren der Familien anregen und unterstützen. Zwickt zum Beispiel ein Kind spontan seine Mutter ins Bein, fragt Gyger bei den Anwesenden nach, ob sie das auch kennen. Man tauscht sich aus, und die Eltern spüren, dass sie mit solch typischen Situationen nicht alleine sind. Dadurch, dass die Profis keine Lösungen bereitstellen, kommen alle gleichberechtigt zusammen. Man kann sich auf Augenhöhe austauschen und Lösungsvorschläge erarbeiten. Das bringt einerseits eine enorme Entlastung der Eltern und andererseits finden die Eltern wieder in eine proaktive Rolle.
 

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Arbeitsinstrumente der familiennahen Sozialarbeit.

 

Die Sozialarbeiterin und Therapeutin Theresa Wagner besucht Familien zu Hause. Dies geschieht ausdrücklich auf Wunsch der Eltern und findet regelmässig statt. Eine Vereinbarung zwischen der Familie und ihr machte schon oft eine KESB-Meldung hinfällig. Umso wichtiger ist es dann, mit den Eltern nahe zusammenzuarbeiten, genau hinzuschauen und empathisch, fürsorglich und wohlwollend zu handeln. Es geht immer um das Kindswohl und in der gemeinsamen Zusammenarbeit darum, die eigenen Ressourcen zu aktivieren und zu stärken. Wagner hält fest, wie die Eltern diese Form von Unterstützung gern annehmen. Es sei beeindruckend, wie dies erstaunlich schnell zu einer Beruhigung der Situation führe. Sehr zufrieden ist das ganze Team mit der Tatsache, dass die verschiedenen Formen der familiennahen Sozialarbeit im laufenden Schuljahr von der Glückskette gefördert und unterstützt wird.  

Beziehungsfelder fein abgestimmt

Wieder im Büro von Störmer fasst er zusammen: «Bei Kindern mit herausforderndem Verhalten ist es wichtig, dass das soziale Feld verstanden und einbezogen wird», und er fügt hinzu, «mit Betonung auf Feld, und das meine ich durchaus im Sinn eines qualitativ guten Nährbodens, eines stimmigen Miteinanders und echter Wertschätzung aller rund um das Kind». Wie die Bedeutung der Gefühle und ihre Würdigung im Schulbereich ist, beschreibt er in seinem lesenswerten Artikel «Empathische Schulführung» (Störmer, 2019). Auf die Frage, was ihn denn zu einer Integras-Mitgliedschaft bewogen habe, nennt er klar die sehr interessanten Tagungen. Die Themen seien relevant und von Interesse.

Mit dem Lesestoff ausgestattet geht es per Velo zurück über holprige Äcker und Felder. Und es scheint, mit jedem vorbeiziehenden Feld erschliesse sich die Bedeutung eines Beziehungsfelds aufs Neue.

 

Quellen

Störmer, E.: Empathische Schulführung. Die Aufmerksamkeit auf das soziale Feld richten. In: Lernende Schule, Friedrich Verlag 2019.

Störmer, E. u. Werner, C.: Schule und Familie brauchen einander bei herausforderndem Verhalten. In: Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik. Jg. 26, 5–6 / 2020.

 

Stiftung Tagesschule Oberglatt

Tagessonderschule für Kinder und Jugendliche im Alter von 6 bis 20 Jahren (Primar- und Sekundarstufe) mit Beeinträchtigungen im Lernen und/oder Verhalten.

  • Unterricht mit individualisierter Förderung in 7 Kleinklassen
  • Schwerpunkt Musik
  • Logopädie, Psychotherapie, Musiktherapie
  • enge Vernetzung mit externen Therapieangeboten
  • Einzugsgebiet: Zürcher Unterland und angrenzende Regionen

Die Schulleitung schätzt sich sehr glücklich, dass die familienunterstützenden Angebote für unsere Schülerinnen und Schüler, wie die Multifamilienarbeit, die schulnahe Elternberatung und die schulnahe Familienbegleitung in diesem Schuljahr durch die Glückskette gefördert und ermöglicht werden.

Worüber wir gern Auskunft geben:

  • Erziehung und Therapie durch Musik
  • Empathische Schulführung
  • Schulnahe Elternunterstützung

Stiftung Tagesschule Oberglatt
Alpenstrasse 18
8154 Oberglatt
044 515 94 20

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tagesschule-oberglatt.ch

Schulleitung: Eckart Störmer und Barbara Pfister

 

© Integras, Text und Fotos: Barbara Hiltbrunner Bissig, April 2021