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10 Jahre neues Kindes- und Erwachsenenschutzrecht

KESB d
 

Am 1. Januar 2013 ist das neue Kindes- und Erwachsenenschutzrecht in Kraft getreten. Es hat das alte Vormundschaftsrecht abgelöst und zu einem bedeutsamen Paradigmenwechsel im schweizerischen Sozial- und Kindesschutzwesen geführt. Aus Anlass des 10. Jahrestags der Einführung dieser Reform haben zahlreiche Spezialist*innen die Errungenschaften dieses neuen Rechts kommentiert und sich mit überwundenen Hürden und den noch immer bestehenden Herausforderungen auseinandergesetzt. Integras fasst zusammen. Mit der Einführung des neuen Kindes- und Erwachsenenschutzrechts wurden die Entscheidbehörden professionalisiert, die Selbstbestimmung gestärkt und die offiziellen Entscheidungen durch die Annahme von «massgeschneiderten» offiziellen Massnahmen gelockert.

Professionalisierung und interdisziplinäre Arbeit der Entscheidbehörden

Das neue Recht zielt darauf ab, die Interessen der Kinder und Erwachsenen ins Zentrum zu stellen. Dazu wurden die Entscheidbehörden professionalisiert und die alten Vormundschaftsbehörden durch die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden (KESB) ersetzt. Die Schaffung einer interdisziplinären Behörde, die sich aus Fachpersonen mit spezifischen Fachkenntnissen zusammensetzt, stellt einen grossen Fortschritt dar: Spezialist*innen aus Recht, Sozialarbeit und anderen Disziplinen können nun ihr jeweiliges Wissen im Interesse des Kindes zusammenführen. Dank dieser interdisziplinären Zusammenarbeit erfolgen Verfahren und Entscheide juristisch einwandfrei und gleichzeitig pragmatisch, lösungsorientiert, nachvollziehbar und im Interesse der betroffenen Personen.

Allerdings stand die Schaffung einer interdisziplinären Kultur in den Entscheidbehörden von Anfang an vor der grossen Herausforderung der knappen Ressourcen. So bleibt etwa die Verfügbarkeit von personellen, zeitlichen und themenspezifischen Ressourcen im Bereich des Kindesschutzes und der Kinderrechte ein Dauerthema sowohl für die KESB wie für das gesamte Kindesschutznetz, das ebenso von der Frage der Interdisziplinarität betroffen ist wie die Schutzbehörden. Eine nachhaltige und für die betroffenen Personen nachvollziehbare Umsetzung eines Entscheides – insbesondere eines Entscheides für eine Fremdunterbringung – erfordert eine zusätzliche Zusammenarbeit und eine netzwerkgestützte gemeinsame Reflexion, die sämtliche Fachpersonen im Umfeld des Kindes, das Kind selber und seine Angehörigen einbindet. Professionalisierung und Interdisziplinarität verursachen nicht zu unterschätzende Kosten und stellen zudem oftmals die professionelle Haltung aller mit dem Fall befassten Akteure in Frage.

Selbstbestimmung und Partizipation der Kinder im Verfahren

Mit der Reform von 2013 wurde das Recht des Kindes und seiner Eltern auf Partizipation in Kindesschutzverfahren explizit im Gesetz festgehalten. Es ist untrennbar mit der Selbstbestimmung verbunden, einem der zentralen Grundsätze des neuen Rechts. Den Standpunkt der Kinder und der Eltern anzuhören und ihre Meinung einzubeziehen trägt wesentlich dazu bei, dass Kindesschutzmassnahmen effizient und nachhaltig wirken. In der Praxis stellt sich die Umsetzung des Rechts auf Partizipation allerdings teilweise sehr schwierig dar.

Die Ergebnisse der laufenden Forschung Intapart, die anlässlich der KOKES-Tagung 2022 vorgestellt wurden, zeigen einige dieser Hindernisse auf.

Dieses Forschungsprojekt im Rahmen des Programms NFP76 fokussiert auf die Perspektive und das Erleben der Kinder und ihrer Eltern in Kindesschutzverfahren und zeichnet die zentralen Entwicklungsetappen des Kindesschutzes in der Schweiz nach.

Ihm zufolge betrifft eines der Hindernisse für die Umsetzung der Partizipation den Zugang der Kinder zur Information. Die Umfrage bei Kindern und Jugendlichen zeigt auf, dass diese die Informationen, die sie betreffen, oftmals nicht vollständig erfassen können: Zwei Drittel der befragten Kinder und Jugendlichen haben angegeben, die Informationen nur teilweise verstanden zu haben.

Die Umfrage bei den KESB-Fachpersonen ihrerseits zeigt auf, dass das hauptsächliche Hindernis für die Partizipation im Mangel an Sensibilisierung, Fachkenntnissen und Zeit besteht.

Eine weitere gewichtige Problematik liegt in der grossen Disparität der Ansätze, auf welche sich die KESB im Bereich der Information und des Einbezugs der Kinder stützen. Es zeigt sich, dass bei den Fachpersonen unterschiedliche Auffassungen und Interpretationen des Konzepts der Partizipation bestehen. Auch wenn es eine Vielzahl an «best practices» gibt, behindert das Fehlen von Standards für eine einheitliche Praxis doch die Anwendung dieses Rechts im Entscheidungsfindungsprozess und stellt damit auch die Gleichbehandlung in Frage.

Fazit

Integras begrüsst den Paradigmenwechsel und die Tatsache, dass der Standpunkt und die Selbstbestimmung der betroffenen Kinder und Jugendlichen vermehrt in den Platzierungsprozess einbezogen werden. Dieser Paradigmenwechsel lässt sich insbesondere in den Empfehlungen der SODK und der KOKES ablesen, die den Akzent auf die Partizipation der Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen legen (es sei hierzu auf die Stellungnahme von Integras verwiesen: Empfehlungen zur ausserfamiliären Unterbringung – Integras, Fachverband Sozial- und Sonderpädagogik).

Die Praxis zeigt auf, dass das Kind in ein äusserst komplexes Helfernetz integriert ist (zahlreiche verschiedene Fachrichtungen, die für das Kind entscheiden). Dadurch wird auch die Fallerfassung bzw. die Fälle immer komplexer. Dies macht eine inter- und transdisziplinäre Zusammenarbeit der verschiedenen involvierten Fachpersonen und eine klare Benennung ihrer Verantwortungsbereiche, Rollen und Mandate notwendiger denn je (siehe hierzu Standard Nr. 5 der Qualitätsstandards von Integras zur Prozessqualität der Platzierung von Kindern und Jugendlichen in Pflegefamilien). Die Schnittstellen zwischen den Fachpersonen sowie den Kindern und ihren Angehörigen sind für eine positive Entwicklung des schweizerischen Schutzsystems entscheidend.

Quellen und vertiefende Literatur

Prise de position Integras Recommandations relatives au placement extra-familial

Standards zur Prozessqualität der Platzierung von Kindern und Jugendlichen in Pflegefamilien

Zehn Jahre Kindes- und Erwachsenenschutzrecht: ein erfolgreicher Hürdenlauf | BFH

https://www.kokes.ch/fr/actualites/journees-detude-2022 (FR)

https://www.kokes.ch/de/aktuell/fachtagung-2022 (DE)

Partizipation gestalten im Kindesschutz – Erkenntnisse aus dem Forschungsprojekt Intapart, präsentiert an der KOKES-Fachtagung 2022